



Here are the first few pages:
Der Schmerz sticht zu wie ein Messer, ein starres Korsett umklammert Nacken und rechte Schulter. Ich kann den Hals nicht mehr drehen, Zurückschauen ist aussichtslos. Sogar das Atmen tut weh.
Zu spät. Das Telefon schrillt in Pauls Wohnung sechshundert Kilometer entfernt, dreimal, fünfmal, zehnmal. Die Wohnung ist klein, bis zum zweiten Klingelton ist der Flur von jeder Stelle aus zu erreichen. Dort steht das Telefon auf einem niedrigen Schränkchen, gleich neben der Eingangstür. Beim Telefonieren kann man sich im Spiegel sehen. Drei Schritte rechts das Bad mit dem Klo. Daneben die Kammer für den Staubsauger und die Urlaubskoffer.
Die Wohnung ist leer, ich kann es förmlich hören, der Klang der Klingel hohl. Dieses widerwärtige schwarze Telefon mit dem Schmutz unter der Wählscheibe. Der Hörer schwer und unhandlich. Wie oft habe ich ihnen gesagt, sie sollen ein neues Telefon bei der Post bestellen, es kostet nichts. Ein modernes Tastentelefon, mit dem man telefonieren kann, ohne sich den Finger zu verstauchen, neu, leicht und sauber. Doch alles Neue macht ihnen Angst.
Oder: Mein Bruder liegt röchelnd auf dem Bett, würde nicht abheben, auch wenn er noch könnte. So ist es schon einmal gewesen, vor zwanzig Jahren.
„Ruth, Paul röchelt!“ Die Stimme der Mutter am Telefon hysterisch. Sie wollte über Nacht wegbleiben und kam überraschend zurück. Er lag auf seinem schmalen Jugendbett im Kabinett und röchelte. Über ihm türmte sich seine Bibliothek. Die Dichter und Denker schauten teilnahmslos auf ihn hinunter.
„Mach kein Theater“, schnauzte ich die Mutter am Telefon an. Wenn sie Gefühle zeigte, wurde ich zu Eis. Dass sie es damals schaffte, die Rettung zu rufen, wundert mich heute noch. Wohin er gebracht wurde, ließ sie mich nicht wissen, ich musste es selbst herausfinden. Das hatte ich davon.
Im Spital klang Pauls Atem wie durch einen Lautsprecher verstärkt, Plastikschläuche überall, der Magen bereits ausgepumpt. Er warf den Kopf hin und her, und wenn er die Augen einen Schlitz weit öffnete, sah man nur das Weiße.
Es ist tief in der Nacht und plötzlich stiller als sonst. Meine Berliner Wohnung liegt an einer Pflasterstraße. Wenn ein Auto vorüber fährt, poltert es. Rund um meinen schmerzenden Hals ist die Welt erstarrt. Meine Stimme am Telefon klingt fremd, wie eine automatische Ansage. Die Kusine. Merkwürdig, dass ich in Wien tatsächlich eine Kusine habe, wir sind einander in der letzten Lebensphase meiner Mutter näher gekommen. Sie hat sich um sie gekümmert, und um Paul.
„Warten wir bis morgen“, bittet sie. Sie ist erkältet, und draußen türmt sich der Schnee. Doch warten kann ich nicht.
„Ich melde mich wieder.“
Das Kreischen des Telefons durchschneidet die Stille.
„Ja?“ Meine Stimme ist tonlos. Die Feuerwehr ist über die Balkontür eingestiegen, berichtet die Kusine, auch krank und um drei Uhr früh immer noch effizient.
„Wir werden ein neues Glas in die Balkontür einsetzen lassen müssen.“
Sie denkt immer an alles. Die Wohnung ist leer, sagt sie, mustergültig aufgeräumt. Auf dem Couchtisch ein Schlüsselbund, die Schlüssel passen in die Wohnungstür. Daneben drei beschriftete Kuverts. Sie hat nichts angerührt. Sie klingt erleichtert, eine aufgeräumte Wohnung ein Zeichen von Normalität. Gewiss ist sie froh, kein Blut vorgefunden zu haben, keinen am Fensterkreuz hängenden Paul, ja nicht einmal einen röchelnden Paul. Eine aufgeräumte Wohnung beruhigt.
Ich rufe eine andere Kusine an, in Sydney. Vorher überprüfe ich, welche Tageszeit dort ist. Auf keinen Fall will ich sie wegen einer Frage wecken, deren Antwort ich schon kenne. Meine englische Stimme klingt noch fremder. Noch nie habe ich mit Australien telefoniert. Wenn man in Wien aufgewachsen ist, telefoniert man nicht mit dem Ausland. Nein, Paul ist nicht hier, meldet die australische Kusine als ob sie die Frage nicht überraschte. Macht nichts, war nur so ein Gedanke gewesen.
Ein neues Leben in Australien beginnen, Pauls Traum. Oder in New York. Die Emigranten von damals haben es auch geschafft, sagte er. Sie kamen mit nichts und haben sich ein neues Leben aufgebaut.
„Damals gab es Hilfsorganisationen“, wandte ich ein, „du bist kein Flüchtling. Die Schoa ist vorüber. Das Leben in den Vereinigten Staaten ist hart. Wenn du es schon hier nicht schaffst, wie erst dort?“
Das war böse, das hätte ich nicht sagen sollen.
„Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast!“, blaffte er zurück.
Ich verstand. Immer diese Drohung, seit Jahrzehnten schon.
Als die australische Kusine und ihr Mann ein Jahr zuvor in Wien waren, ging ich mit Paul das Nachtmahl einkaufen. Meinl am Graben, das vornehmste Geschäft der Stadt. Er suchte die teuersten Sachen aus, Käse, Schinken, Lachs, Wein. Ich wollte ihn mäßigen. Die Familie hat immer sparsam gelebt, große Sprünge konnten sich unsere Eltern nicht erlauben. Nach dem Tod des Vaters war die Mutter stolz, mit der kleinen Pension so gut zu haushalten, dass immer noch Geld für den Urlaub blieb. Der Urlaub musste sein, seit den fünfziger Jahren fuhr die Familie jedes Jahr in den Urlaub, nach Italien, Jugoslawien, Griechenland. Für diesen Höhepunkt des Jahres musste man sich im Alltag einschränken. Und jetzt Meinl am Graben. Paul war wie im Rausch. Aufgeregt packte er immer mehr Köstlichkeiten in den Einkaufswagen.
„Es ist ja nur für dieses eine Mal“, sagte er.
Er sagte nicht „das letzte Mal“, das nicht. Aber es klang so.

Her prize: Best Friend.

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